Volker Wild: Denkzeichen, Diskurse, Verfahren
Denkmäler werden heute häufig Denkzeichen genannt. Während traditionelle Denkmäler in der Regel dazu dienten, bestehende Sichtweisen auf die Geschichte zu bestätigen und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren, wird von Denkzeichen erwartet, dass sie zum Nachdenken und Nachfragen herausfordern. Doch eine Theorie des Denkzeichens oder gar ein klar definiertes Verfahren zur Entwicklung von Denkzeichen fehlt bislang.
Im Folgenden wird versucht diese Leerstelle zu füllen. Ausgangspunkt dafür ist die Prämisse, dass Denkzeichen der gesellschaftlichen „Selbstverständigung“ dienen und eine „diskursive“ Funktion haben sollen.
Im ersten Teil werden dazu die Funktionen von Denkzeichen definiert. Im zweiten Teil werden die Bedingungen skizziert, die an Verfahren gestellt werden müssen, wenn Gedenkprojekte zur diskursiven Selbstverständigung von Gemeinwesen beitragen sollen. Diese Thesen werden mit Hilfe von Jürgen Habermas und insbesondere in Interpretation seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Frankfurt 1982) entwickelt. In überraschender Weise erweist sich die Theorie von Habermas als geeignet, Ziele und Verfahren memorialer Prozesse in demokratisch verfassten Gemeinwesen begrifflich zu fassen.
Die Autonomie künstlerischer Gestaltungen wird dabei nicht in Frage gestellt, da Denkzeichen nicht „reine“, sondern „gebundene“ Kunst sind. Die Kunst agiert hier in Bezugssystemen, die andere als die der Kunst selbst sind. Sie „äußert“ sich zu Fragen der Geschichte, der Moral und des kollektiven Selbstbildes. Das tut sie auch sonst, aber hier tut sie es unter Vorgaben Dritter. Politiker formulieren Aufgabenstellungen. Preisgerichte, besetzt unter anderem mit Historikern, Beamten und Bürgern, geben Empfehlungen. Realisierte Entwürfe sollen im weitesten Sinne eine politische Funktion erfüllen. Und doch: die Kunst bleibt autonom. Ihre Fähigkeit, eingewohnte Blick- und Sichtweisen zu unterlaufen und im Sinne moderner ästhetischer Theorien einen Raum des Nicht-Identischen herzustellen, erlaubt es, im Bereich des kollektiven Gedenkens auf Belehrungen, moralische Zeigefinger und Selbstbekenntnisse zu verzichten. Die Kunst eröffnet die Chance, dass sich der Betrachter seiner Freiheit bedient, sich mit der Geschichte selbst auseinanderzusetzen. Die Kunst ist frei, aber nicht rein.
I.
Nach Habermas sind Diskurse Formen argumentativer Verständigung. In ihnen setzen sich Akteure über Geltungsansprüche von Äußerungen auseinander. Habermas unterscheidet zwischen Äußerungen über die objektive, die soziale und die subjektive Welt. Der Geltungsanspruch von Tatsachenbehauptungen über die objektive Welt besteht darin, wahr zu sein. Er wird mit den Mitteln theoretischer Kritik überprüft. Die politisch-moralischen Normen im Bereich der sozialen Welt erheben den Geltungsanspruch, richtig zu sein. Deren Überprüfung ist Sache der praktischen Kritik. Über Wahrheit und Richtigkeit entscheidet allein das Ergebnis des Diskurses. Als dritten Geltungsanspruch nennt Habermas die Wahrhaftigkeit von Selbstdarstellungen. Selbstdarstellungen nehmen einerseits Personen vor, wenn sie anderen gegenüber ihre Gefühle und inneren Erlebnisse mitteilen. Andererseits bezieht Habermas den Begriff auch auf die Kunst. Auch sie stellt eine subjektive Wahrnehmung dar. Hier spricht Habermas nicht von Wahrhaftigkeit, sondern von Authentizität als von demjenigen Anspruch, den die Kunst in ihren Werken erhebt. Mit Selbstdarstellungen setzt sich die therapeutische bzw. ästhetische Kritik auseinander.
Im Denkzeichen bündeln sich alle vier Geltungsansprüche. Historische Äußerungen sollen wahr, moralische Botschaften in normativer Hinsicht richtig, die Art und Weise, wie sich das kollektive Selbst, das dieses Zeichen setzt, darstellt, soll wahrhaftig und, last not least, die künstlerische Präsentation authentisch sein, d.h. sie soll eine eigene Auseinandersetzung des Künstlers mit diesen Ansprüchen aufweisen, ohne die Ansprüche selbst aufzugeben.
Gesellschaftliche Selbstverständigung im Medium des Gedenkens impliziert, dass sich Gesellschaften auch über sich selbst, über ihre innere Beziehung zum thematisierten Ereignis verständigen. Dies ist der blinde, weil sensible Fleck vieler Denkmaldebatten. Denkzeichen erinnern in aller Regel an eine Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist, die uns bewegt, zumeist belastet, an die wir noch in Schmerz, Verlust und Schuld innerlich gebunden sind, oft unbewusst und daher der Gefahr der Wiederholung ausgesetzt. Das Denkzeichen hat die Funktion, das ans Licht zu bringen und der Durcharbeitung zugänglich zu machen, was bisher in der Dunkelheit der Verleugnung und Verdrängung und den vielfältigen anderen Formen der Abwehr verschlossen geblieben ist oder sich auch nur in einer irritierenden Unsicherheit eingekapselt hat. Solange das Wir in seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht wahrhaftig ist, bleiben die Wahrheitsbehauptungen des Denkzeichens akademisch und seine moralischen Appelle deklamatorisch.
Die Darstellung eines kollektiven Selbst ist im Falle offener Gesellschaften besonders problematisch. Diese sind durch Meinungsvielfalt , Enttraditionalisierung und Individualisierung und damit gleichsam durch ein multiples Selbst gekennzeichnet. Wenn es im memorialen Kontext um Wahrhaftigkeit geht, dann kommt es darauf an, dass gerade die heterogene Struktur des Selbst im Denkzeichen transparent wird, die Figur der Selbstbefragung als Auseinandersetzung mit der schwierigen Sache, um die es jeweils geht und die ihre wie auch immer versteckten Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Es gehört zu den bemerkenswerten Eigenschaften des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, dass der Bezug auf ein Selbst, das zur Darstellung kommt, fehlt. Das Denkmal bleibt „absenderlos“, scheinbar vom Weltgericht hierher gestellt, und – entzieht sich damit der Überprüfung seiner Wahrhaftigkeit. Dies ist die Folge der Tatsache, dass die Auftraggeber mit der Frage nicht „fertig“ werden konnten, wie es mit dem Selbstbezug „der Deutschen“ zu der Ermordung der europäischen Juden eigentlich oder „wahrhaftig“ steht.
Diskurse bedienen sich des Mediums der Sprache. Nur so können Geltungsansprüche von Äußerungen begründet werden. Künstlerisch gestaltete Denkzeichen können zwar auch Sprache als Medium einsetzen. Jedoch funktioniert hier Sprache nicht als Medium der argumentativen Auseinandersetzung, sondern der Repräsentation, und zwar als eines unter anderen. Die Eigenart künstlerischer Gestaltung besteht darin, dass sie die Geltungsansprüche, die in Diskursen Gegenstand sprachlicher Verständigung sind, sinnlich wahrnehmbar macht. Geltungsansprüche werden nicht begründet, sondern verkörpert. Das sollen sie sogar: Das Denkzeichen soll – zumindest für eine gewisse Zeit – eine bestimmte Situationsdeutung aus dem Streit der Argumente herausheben und ihr eine gewisse Dauerhaftigkeit verleihen.
Die Kunst hat heute vielfach auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert und in ihre Gestaltungen die diskursive Binnenstruktur öffentlicher Selbstverständigung eingeschrieben. Sie versteht sich als Teil der Öffentlichkeit, provoziert Widerspruch, stellt Wahrnehmungen in Frage, versteht sich interaktiv und gibt sich deutungsoffen. Sie reagiert sensibel auf die Geltungsansprüche, wie sie in Diskursen erhoben werden. Historische Wahrheiten muss sie nicht mehr in Bronzelettern verewigen. In ihren normativen Äußerungen verzichtet sie auf Appelle. In ihren Selbstdarstellungen bleibt sie zurückgenommen, selbstkritisch und antiheroisch. Die Machtgesten und Heroisierungen vergangener Zeiten und die Propagandaformeln autoritärer Regime sind obsolet geworden. Doch auch die feineren Mittel der emotionalen Überwältigung und der affirmativen Rhetorik einer missverstandenen Denkmalspädagogik haben sich als fragwürdig erwiesen.
II.
Habermas Diskurstheorie ist auch eine Theorie der Verfahren und ihrer Bedingungen, unter denen Verständigung mittels Diskursen möglich ist. Damit sich in Diskursen das bessere Argument durchsetzen kann, müssen diese frei von äußerem Zwang und innerem Druck stattfinden. Niemand soll genötigt werden. An ihnen soll sich jeder gleichberechtigt beteiligen können. Keiner soll sich auf seine angestammte Autorität, erworbene Qualifikation oder persönliche Integrität berufen können. Fachliche Expertise hat ihre Geltung nur im Rahmen der Argumente, die sie bereit stellt. An deren Kritik kann sich jeder sprach- und vernunftbegabte Akteur beteiligen. Was als wahr, richtig oder wahrhaftig gelten kann, ist das Ergebnis einer argumentativen Aushandlung zwischen den beteiligten Akteuren. Schon der Begriff der Geltung macht die intersubjektive Qualität dessen deutlich, worum es in Diskursen geht. Hinter der Betonung rationaler Begründung als der Grundlage von Konsens steht die Überzeugung von Habermas, dass Rationalität, nicht Glaube, Tradition oder Zugehörigkeit das Prinzip ist, das moderne Gesellschaften stabil integriert und ihre Ordnungen zustimmungsfähig macht.
Wenn heute Gedenkprojekte der Selbstverständigung von Bürgergesellschaften dienen sollen, dann muss die Frage gestellt werden, welche Anforderungen an die Verfahren gestellt werden müssen, in denen solche Projekte entwickelt und über die Ergebnisse entschieden wird. Eine breite Debatte zu diesen Fragen ist bislang nicht geführt worden. Die „Grundsätze und Richtlinien für Wettbewerbe auf dem Gebiet der Raumordnung, des Städtebaus und des Bauwesens“ und der „Leitfaden für Kunst am Bau“ haben eine wettbewerbs- und baurechtliche Funktion. So wichtig sie sind, sie beantworten nicht die Frage nach den Erfolgbedingungen von memorialen Diskursen. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass sich Akteure auf Ausschreibungen einigen können? Was müssen Aufgabenstellungen definieren? Wer muss an solchen Definitionsprozessen beteiligt werden? Welche Rolle kommt Experten einerseits und der Öffentlichkeit andererseits zu? Und welche Rolle kommt den einzelnen Fachdisziplinen, die an Verfahren beteiligt werden, zu? Wie können Künstler möglichst frühzeitig in die Erarbeitung eines Projekts eingebunden werden? Wie sollten Jurierungsprozesse organisiert werden? Es stellen sich Fragen, die bei traditionellen Denkmalvorhaben nie denkbar gewesen wären. In autoritär verfassten Staaten vergibt letztlich der Herrscher den Auftrag und entscheidet souverän über das Ergebnis. Selbstverständigung in Bürgergesellschaften kann auf diese Weise nicht funktionieren.
Denkzeichenprojekte brauchen mehr Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung. Vorhaben müssen lange vor der Ausschreibung der jeweils spezifischen Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Bürger sind auf breiter Basis zu ihren historischen Erfahrungen, ihren Meinungen und Zielvorstellungen zu befragen. Die Ergebnisse sind in die Ausschreibung einzubeziehen.
Öffentlichkeit und Expertise schließen sich nicht aus. Experten dürfen der Öffentlichkeit nicht prinzipiell die Qualifikation absprechen, sich zu historischen oder künstlerischen Fragen zu äußern und über sie mit zu entscheiden. Umgekehrt darf die Öffentlichkeit den Experten nicht die Kompetenz absprechen, zu Fragen der Selbstdarstellung und der politischen Moral Stellung zu beziehen und über sie zu urteilen. Die Diskurstheorie verfolgt die aufklärerische Idee einer politischen Kultur, in der sich Vernunft und Öffentlichkeit miteinander verbinden. Gedenkprojekte müssen disziplinär geöffnet werden. Die historische Forschung ist das Metier der Geschichtswissenschaft, mit Fragen der Moral befasst sich die Praktische Philosophie und die ästhetische Kritik gehört zur Domäne der Kunstwissenschaft. Dennoch lassen sich Gedenkdebatten nicht disziplinär parzellieren. Expertisen durchdringen einander. Was Historiker erforschen und wie sie ihre Ergebnisse deuten, beruht auf moralisch-politischen Wertentscheidungen. Kunstwissenschaftler nehmen zu historischen und moralischen Fragen Stellung. Politiker verteidigen Selbstbilder und formulieren Aufgabenstellungen für die Kunst. Die künstlerische Gestaltung synthetisiert die verschiedenen Dimensionen und kann in ihrer Qualität auch nur „synthetisch“ beurteilt werden.
Fragen der Selbstdarstellung sind das Metier der Sozialpsychologen. Ihre Beteiligung an Gedenkprojekten ist anzustreben. Ihre Kompetenz ist erforderlich, um den häufig abgewehrten und entstellten Selbstbezug von Gesellschaften zu belastenden historischen Ereignissen aufzuklären und einen „wahrhaftigen“ Bezug zu ermöglichen. Das „Wir“ soll sich in seinem Bezug auf das historische Ereignis, um das es geht, wieder erkennen, damit es das Ereignis durcharbeiten und sich von den Zwängen der Wiederholung lösen kann.
Die Ereignisse, an die erinnert wird, lösen bei Opfern, Projektakteuren und Betrachtern Emotionen aus. Dennoch müssen memoriale Debatten auf der Basis rationaler Argumente und ohne moralischen Druck geführt werden. Die oft zu beobachtende Praxis, Debatten zu emotionalisieren und Teilnehmer zu diskreditieren, weil sie „nicht dabei waren“ oder nicht „betroffen“ sind, zerstört die Basis von Selbstverständigungen.
Zwischen Zielführung und Prozessorientierung ist eine prekäre Balance zu halten. Entscheidungen über Projekte müssen von zuständigen Gremien nach Mehrheitsregeln getroffen werden. Damit aber Entscheidungen im Konsens getroffen werden und der Konsens belastbar ist, müssen die Grundlagen der Entscheidungen in zeitlich zunächst offenen Verfahren argumentativ ausgehandelt werden. Gerade ein gemeinsames Gedenken, das für eine zeitlich unbestimmte Zukunft gültig sein soll und sich an einen prinzipiell nicht eingeschränkten Personenkreis adressiert, ist auf Konsensbildung angewiesen. Die Bemerkung, die Diskussion um das Denkmal sei schon das Denkmal selbst, die im Zusammenhang mit dem Wettbewerb für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas oft fiel, beschreibt richtig die Selbstverständigungsfunktion von Diskursen, geht aber daran vorbei, dass Denkzeichen die Aufgabe haben, die Ordnung, die in diesen Prozessen gestiftet worden ist, dauerhaft symbolisch zu repräsentieren. Es ist gerade die Herausforderung eines intelligenten Verfahrensdesigns und eines sensiblen Verfahrensmanagements, die schwierige Balance zwischen diskursiver Öffnung und ergebnisorientiertem Projektmanagement zu finden.
Zuerst veröffentlicht in: Informationsdienst des Kulturwerks des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlin (Hg.), Kunststadt Stadtkunst, Berlin, 2009, Nr. 56, S. 4-5.