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Aufsatz: Gedenkpolitik als Imagepolitik. Die Kohl-Regierung und das „Holocaust-Denkmal“

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VOLKER WILD & JAN FERDINAND

 

Einleitung

Der Bau des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas wirft für die Forschung über die Gedenkpolitik der deutschen Bundesregierung die weit reichende Frage auf: Wie konnte die Bundesregierung unter Helmut Kohl Anfang der neunziger Jahre mit der Umgestaltung der Neuen Wache die seit Adenauer bestehende Politik des unterschiedslosen Gedenkens an die deutschen Opfer und die Opfer deutscher Verbrechen fortschreiben und gleichzeitig mit der Unterstützung für das Projekt eines nationalen Denkmals für die ermordeten Juden diese Politik in Frage stellen? Verbirgt dieser Widerspruch eine bestimmte Logik? War dies ein plötzlicher Strategiewechsel oder ein Gesinnungswandel, wie manchmal vermutet wird?[1] Gab Kohl auf, was er zuvor zu bewahren versucht hatte?

Gedenkpolitik in der Adenauerzeit hieß, der deutschen Opfer zu gedenken, und, wenn im Laufe der Jahre auch der Juden und später auch der anderen Opfer gedacht wurde, brachte dies nicht zuletzt die Überzeugung der Deutschen zum Ausdruck, sie seien nicht minder Opfer Hitlers geworden wie die Opfer des Holocaust.[2] Adenauer zog es im Allgemeinen vor zu schweigen, um die „Schande der Hitlerzeit“ vergessen zu machen und Deutschlands Ruf in der Welt wieder zu alter Geltung zu bringen. Falls doch von den Verbrechen, die ja ohnehin zu Tage lagen, die Rede war, so waren „die Nazis“, die „Ruchlosen“ die Täter gewesen.[3] Das deutsche Volk war, so hieß das, unbefleckt geblieben. Die oft diffuse Ahnung einer Mitschuld großer und größter Teile der deutschen Bevölkerung an dem Zivilisationsbruch war das nervöse Zentrum des Verhältnisses der Nachkriegsdeutschen zum „Dritten Reich“.[4]

Das memoriale Design der Adenauerzeit wurde Jahrzehnte lang nicht angetastet. 1986 sollte es in einer zentralen Gedenkstätte am Bonner Rheinufer verewigt werden. Kohl scheiterte jedoch am Widerstand der sozialdemokratischen Opposition.[5] Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung boten ihm bald darauf die Möglichkeit, seine Pläne in Berlin an einem weit repräsentativeren Ort im historischen Setting der alten Hauptstadt umzusetzen.[6]

Weniger bekannt ist, wie die Bundesregierung auf die gleichzeitigen Pläne des Vereins  „Perspektive Berlin“ reagierte, in Berlin ein riesiges Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten. 1988 machte die „Perspektive“ ihr Vorhaben bekannt. Bis 1993 waren die wichtigsten Entscheidungen zwischen der Privatinitiative, der Bundesregierung, dem Senat und den Vertretern der betroffenen Opfergruppen, der Juden und der Sinti und Roma, gefallen. An den dort vereinbarten später so genannten „Essentials“ – dazu gehörten Widmung, Standort und Auslober – änderten auch die Expertencolloquien, die jahrelangen Diskussionen um die künstlerischen Entwürfe und die Bundestagsdebatten nichts mehr.[7] Diese Frühphase des Projekts blieb in den bisherigen Veröffentlichungen über das Denkmal weitgehend im Dunkeln.[8]

Der folgende Aufsatz wertet bisher nicht zugängliche Akten des Bundeskanzleramtes und des Bundesinnenministeriums aus und versucht, die Stationen der Entscheidungsfindung, die handlungsleitenden Motive und Interessen und die taktischen Züge zu rekonstruieren, die die Gedenkpolitik der Kohl-Regierung in den Jahren 1989 bis 1993 prägten.[9] Unter anderem sollen die folgenden Fragen untersucht werden:

– Wie vereinbarte die Bundesregierung das „Holocaust-Denkmal“-Projekt mit der bisherigen offiziellen Politik des nationalen Kriegsopfergedenkens, das im Mittelpunkt der zentralen Gedenkstätte in der Neuen Wache stehen sollte?

– Wie verhielt sie sich der Konkurrenz verschiedener Opfergruppen gegenüber, vor allem zwischen den Juden und den Sinti und Roma?

– Welche Rolle spielte bei der deutschen Gedenkpolitik die Frage des Ansehens Deutschlands im Ausland?

Vergleiche mit der Adenauerzeit dienen dazu, die Haltung der Bundesregierung erinnerungshistorisch zu kontextualisieren und ihr eigenes Profil deutlicher zu machen.

 

„Unsere Debatte wird weltweit beobachtet“

Es ist nicht bekannt, wann die Bundesregierung zuerst von dem Projekt der Privatinitiative um Lea Rosh erfuhr. Man kann aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie spätestens seit dem von Willy Brandt, Günter Grass und anderen unterzeichneten Aufruf der „Perspektive Berlin“ im Januar 1989 über das Projekt informiert war. Zunächst reagierte die Bundesregierung mit großer Zurückhaltung und stellte ihre Zuständigkeit in Frage. Kultur sei Ländersache. Außerdem orientiere sich die Gedenkstättenpolitik des Bundes nicht an „Opfergruppen“, sondern an „Verfolgungskomplexen“.[10] Dieses Argument hatte seinen Ursprung in der Debatte um die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte des Bundes“ aus dem Jahre 1986, bei der es der Bundesregierung immer darum ging, eine Nennung von Opfergruppen zu vermeiden, um keine Diskussion über den Unterschied zwischen Opfern und Tätern des NS aufkommen zu lassen.

Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung war, dass das Projekt wachsende Zustimmung in der Öffentlichkeit fand. In Deutschland wurde der Aufruf des „Perspektive“ von weiteren Prominenten aus Politik, Kultur und Wirtschaft und von Tausenden von Bürgern unterstützt.[11] Auch im Ausland versuchte Lea Rosh Unterstützung zu mobilisieren. So vermutete das Kanzleramt, sie werde die Gelegenheit nutzen, um auf dem im Mai 1990 in Berlin stattfindenden World Jewish Congress für ihr Projekt zu werben.[12] Von besonderer Bedeutung waren vermutlich Nachrichten aus Washington. Die dortige Botschaft berichtete von einem Artikel des Christian Science Monitor über das „Holocaust Memorial“ in Berlin, in dem das Vorhaben als ein „Pruefstein fuer die historisch-moralische Redlichkeit der Bundesregierung“ bezeichnet und berichtet wurde, dass die Realisierung bisher „an kleinlich-pragmatischen Argumenten und dem Widerstand insbesondere von [Bundeskanzler] Kohl gescheitert“[13] sei. Ein weiteres Fernschreiben der Botschaft, dieses Mal vorsichtshalber als „VS – nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert, betonte das „ueberaus starke Interesse vor allem des juedischen Teils der amerikanischen Offentlichkeit [sic!] an den Vorgaengen in Deutschland seit dem 9. November 1989“ und wies auf die dort bestehenden Besorgnisse „angesichts der ploetzlich als realisierbar erscheinenden Wiederherstellung der deutschen Einheit“ hin. Dabei sei die Frage, „die von amerikanisch-juedischen Besuchern in Deutschland schon in der Vergangenheit zur Sprache gebracht worden war […], noch nicht wieder aufgegriffen worden, die der Errichtung einer zentralen Gedenkstaette für die Opfer des Holocaust in Deutschland. Dies sollte aus hiesiger Sicht nicht darueber hinwegtauschen [sic!], dass diese im weiteren Verlauf des deutschen Einigungsprozesses hier jedoch jederzeit oeffentlich zur Diskussion gestellt werden koennte […]“.[14] Der warnende Unterton dieser Hinweise auf Wiedervereinigung und Holocaust war nicht zu überhören. Offensichtlich verbanden sich im Ausland Sorgen vor einem Wiedererstarken Deutschlands mit der Frage, ob das Land seine historischen Lektionen gelernt hatte und bereit war, sich zu seiner Geschichte zu bekennen.

Bis in den Sommer 1991 hinein überwogen auf Seiten der Bundesregierung die Einwände gegen das Denkmalprojekt. Zwischen September und Dezember 1991 setzte ein Umdenken ein. In einer internen Stellungnahme der Kulturabteilung des Bundesministeriums des Inneren (BMI) vom 19.12.1991 hieß es: Der Regierende Bürgermeister von Berlin und der Bundesinnenminister hätten „Unterstützung für das Projekt signalisiert, sofern der jeweils andere die entscheidende Leistung erbringt, nämlich die Trägerschaft übernimmt.“ Der Bund könne die Trägerschaft nicht übernehmen, da der Entwurf des Gesamtkonzepts für die nationalen Gedenkstätten von einer Verantwortung der Länder für die Gedenkstätten ausgehe. Ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Berlin müsse vermieden werden, da er „international dem deutschen Ansehen wenig förderlich“[15] sei. Am 12.3.1992 berichtete ADN, die ehemalige DDR-Nachrichtenagentur, unter der Überschrift „`Grünes Licht´ für deutsches Holocaust-Denkmal“ von einer Einigung des Bundes mit dem Förderkreis über die Errichtung des Denkmals.[16] Zwei Tage zuvor hatte Bundesinnenminister Rudolf Seiters im Gespräch mit Lea Rosh und Edzard Reuter die grundsätzliche Bereitschaft des Bundes zur Beteiligung an der Trägerschaft und Finanzierung des Projekts erklärt.[17] Doch die Entscheidungsfindung der Bundesregierung, die letztlich erst mit einem Gespräch zwischen Kohl und dem Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland Bubis im Mai 1993 als abgeschlossen gelten kann, blieb zögerlich, von vielen Bedenken, Vorsichtsmaßnahmen und größter Zurückhaltung geprägt.[18]

Keine der Alternativen, die sich Kohl anboten, war unproblematisch. Blieb er in den alten Gleisen des Kriegsopfergedenkens, so hatte er den Beifall eines Großteils seiner nationalkonservativen politischen Klientel.[19] Bei Kohls Kritikern dagegen konnte die Errichtung der Neuen Wache die alte Debatte um den Israel-Besuch und Bitburg wieder aufleben lassen und Kohl dem Verdacht aussetzen, er wolle mit dieser Gedenkstätte seiner Schlussstrichpolitik die Weihe eines Staatsdenkmals geben.[20] Umgekehrt lagen die Verhältnisse beim Denkmalprojekt für die ermordeten Juden. Im Inland konnte das Denkmal Rufe des rechten Spektrums befeuern, endlich Schluss mit der deutschen Schuldbeflissenheit zu machen. Das Ausland dagegen würde Kohl Lob spenden, dass er mit dem neuen, dem spektakulärsten Denkmal an diesem geschichtsträchtigen Ort erstmals die jüdischen Opfer angemessen ehre.

Für Adenauers Wiedergutmachungspolitik wie für Kohls Erinnerungspolitik war die Frage des deutschen Ansehens im Ausland entscheidend. Adenauer betonte verschiedentlich, dass es moralisch geboten sei, das Unrecht an den Juden wiedergutzumachen. Aber ob er ohne die Forderung des US-Hochkommissars McCloy, sich mit den Juden und Israel zu verständigen, das Luxemburger Abkommen abgeschlossen hätte, ist zweifelhaft. Noch zweifelhafter, ja höchst unwahrscheinlich ist, dass Kohl ohne den Anstoß von Rosh und ohne die Lobby, die sie mobilisieren konnte, auf eigene Initiative ein Holocaust- Denkmal errichtet hätte.[21] Wahrscheinlich stimmte er zu, weil er sah, dass er sich ohne einen gravierenden Ansehensschaden dem Projekt nicht länger würde verweigern können. „Unsere Debatte“, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wird „weltweit […] beobachtet“.[22] Ohne diesen Druck von außen hätte er vermutlich vorgezogen, es bei der zentralen Gedenkstätte in der Neuen Wache zu belassen, statt ihre versöhnliche Botschaft durch „Zusatzdenkmäler“ zu schwächen. Wie sehr er „Zusatzdenkmälern“ abhold war, zeigte sich nach dem Ende seiner Kanzlerschaft 1999, als der Bundestag über das „Holocaust-Denkmal“ abstimmte. Kohl plädierte nun dafür, das Denkmal nicht allein den jüdischen Opfern, sondern auch „allen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“[23] zu widmen.

Kohl war – wie es heute in der Erinnerungsforschung heißt – „in search of a usable past“.[24]  Und da sich die Frage, was brauchbar ist, für ihn je nach Anlass und Adressaten änderte, änderte sich auch seine Gedenkpolitik, manchmal innerhalb kurzer Zeit. 1985 gedachte er in Bitburg der gefallenen deutschen Soldaten, einschließlich der Männer der Waffen-SS, und balancierte die lautstarken Proteste gegen diesen Auftritt durch einen Besuch in Bergen-Belsen aus, wo er noch Tage zuvor an den Hiob-Satz erinnert hatte: „Erde, verdecke nicht ihr Blut.“ Seine Methode der doppelten Vergangenheitserinnerung wiederholte er in Berlin. Als deutlich wurde, dass die Zustimmung für das Rosh-Projekt weiter zunahm und der öffentliche Druck zu groß wurde, hängte er an die Neue Wache das „Holocaust-Denkmal“ an.

 

„Die politische Lobby ist als sehr gewichtig einzuschätzen“

Breiten Raum nahmen bei den Verhandlungen um das „Holocaust-Denkmal“ die Auseinandersetzungen mit den Sinti und Roma ein.[25] Deren Zentralratsvorsitzender Romani Rose forderte wiederholt die Beteiligung an dem Denkmalprojekt, denn auch die Sinti und Roma seien Opfer der nationalsozialistischen Völkermordpolitik aus Gründen der Rasse geworden. Ein Kritiker monierte, „dass die Diskriminierung der Sinti und Roma im Unterschied zur Wertschätzung der Juden in der offiziellen bundesdeutschen Politik auch nach Auschwitz in unserem Land unverändert fortdauert.“ Und fragte: „Verdienten die ermordeten Sinti und Roma es nicht gerade deshalb in besonderer Weise, der Nation ins Gedächtnis gerufen zu werden?“[26]

Obwohl die Bundesregierung der stärkste Spieler unter den drei Auslobern war, schon allein weil es sich um ein nationales Projekt handelte und sie als Regierung die Bundesrepublik vertrat, vermied sie eine Entscheidung in der Sache und gab sich als neutraler Makler zwischen den Fronten, dem aber die Hände gebunden seien, weil die letzte Entscheidung bei Lea Rosh bzw. dem Zentralrat der Juden liege.[27] Erst recht vermied sie, sich in die oft kontroverse öffentliche Debatte einzumischen und sich damit angreifbar zu machen. Typisch für die Haltung, Kontroversen auszuweichen, war eine interne Stellungnahme der Kulturabteilung des Bundeskanzleramtes vom 18. April 1989. Dort hieß es: „Die Pläne der [„Perspektive Berlin“] laufen der Absicht der Bundesregierung zuwider, eine nationale Mahn- und Gedenkstätte“ zu errichten und sie „allen Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft“ zu widmen. Da aber nicht ausgeschlossen sei, dass Herr Rose „den von anderer Seite mehrfach vorgebrachten Vorwurf […], die Bundesregierung wolle Täter und Opfer gemeinsam ehren,“ erneut in die Öffentlichkeit trage, „sollte die Überzeugung der Bundesregierung, daß nicht einzelne Opfergruppen hervorgehoben werden sollen, in den Mittelpunkt der Antwort gestellt werden“.[28] Hinter dieser offiziellen „Sprachregelung“ stand die Sorge, das Projekt Neue Wache könne in Frage gestellt werden. Würde sich nämlich die Bundesregierung darauf einlassen, einzelne Opfergruppen der NS-Verbrechen zu ehren, würde dies die bisherige Politik einer gemeinsamen Ehrung von Toten der Täterseite und solchen der Opferseite untergraben. Auch zwei Jahre später hatte sich an diesem Standpunkt noch nichts geändert. „Die Bundesregierung vertritt nach wie vor die Überzeugung“, schrieb der Chef des Bundeskanzleramtes Anton Pfeifer in einem Brief an Romani Rose, „daß eine isolierte Würdigung einer Opfergruppe dem Leid der übrigen Opfer nicht gerecht würde“.[29]

Als sich eine Einigung zwischen den drei Auslobern und dem Zentralrat der Juden abzeichnete, wiederholte Romani Rose seine Forderung nach einer „gemeinsamen nationalen Gedenkstätte“ für Sinti und Roma und für Juden, worauf die Bundesregierung mit wachsenden Abständen ausweichend und hinhaltend reagierte. Diese Forderung, schrieb die Kulturabteilung des BMI freimütig, „erscheint zwar berechtigt, wird sich aber nicht realisieren lassen. Der Förderkreis beharrt auf einem Denkmal, das ausschließlich an den jüdischen Holocaust erinnern soll. Die politische Lobby hierfür ist als sehr gewichtig einzuschätzen“.[30] Die politische Lobby des Förderkreises erwies sich offensichtlich als so gewichtig, dass die Bundesregierung ihre Argumentation innerhalb von drei Wochen austauschte. Nun waren nicht die Forderungen der Sinti und Roma berechtigt, sondern die des Förderkreises. Es hieß nun: „die Verfolgung und Ermordung der Juden“ sei „ein so einmaliges Unrecht“, „daß hiermit anderes Nazi-Unrecht nicht vergleichbar“[31] sei.

Es wurde hin und her überlegt, wie man „Herrn Romani Rose“, wie Lea Rosh formulierte, „mit einer eigens für die ermordeten Zigeuner [sic!] errichteten Gedenkstätte zufriedenstellen“[32] könne. Auch der Hohe Asperg, ein abgelegener Ort in der Nähe von Ludwigsburg, an dem sich ein Sammellager der Nazis für die Sinti und Roma befand, war im Gespräch.[33] Der Chef des Bundeskanzleramtes schrieb Kohl: „Die politische Linie, die ich in dieser Frage stets eingenommen habe, geht dahin, daß nicht die Bundesregierung und schon gar nicht das Bundeskanzleramt in die Lage kommt, den Streit zu entscheiden. Bleibt der Streit offen, so obliegt vielmehr eine Entscheidung dem Berliner Senat.“ Kohl vermerkte am Rand dieses Absatzes: „Ja“.[34] Nur der Völkermord an den Juden, so ließ sich aus der Bemerkung schließen, war für die Bundesregierung ein Ereignis von nationaler Bedeutung und nur dieses fiel daher nach ihrem Verständnis in ihre Zuständigkeit.

Die Austauschbarkeit der Standpunkte, die die Bundesregierung vertrat, das Hin und Her der Schlussfolgerungen, die sie zog, die Geschmeidigkeit, mit der sie auf das Wechselspiel der Kräfte reagierte, all das war eine Demonstration ihres instrumentellen Umgangs mit den Opfern der Nazizeit und konnte für die Gruppen, die von dem nationalen Gedenken ausgeschlossen werden sollten, eine tiefe Demütigung bedeuten. Zugleich äußerte sich in diesen Reaktionen Kohls leicht absolutistisches geschichtspolitisches Rollenverständnis. Aus der Selbstgewissheit des „gelernten“ Historikers leitete er das Kanzlerprivileg ab, die geschichtspolitischen Linien der Bundesregierung im Alleingang vorzugeben und sich wo nötig öffentlichen Auseinandersetzungen zu entziehen.[35] Das hatte Konsequenzen für den weiteren Verlauf des „Holocaust-Denkmal“-Projekts: Es trocknete diskursiv aus. Als das Projekt nach dem 1. Wettbewerbsdurchgang in die Krise kam und in Colloquien mit Prominenten aus Wissenschaft, Kunst und öffentlichem Leben intellektuell reanimiert werden musste, kam es zum Eklat. Die Tagungsmoderation entzog die vorab zwischen den Auslobern vereinbarten Essentials der Debatte, woraufhin eine Reihe von Experten mit dem Auszug drohten – oder tatsächlich auszogen.[36] Zu den scharfsinnigsten Kritikern des Rosh-Projekts und seiner Essentials zählte der Historiker Reinhard Koselleck, ein Bekannter Kohls aus „gemeinsamen Heidelberger Zeiten“.[37] Koselleck monierte, dass „alle Argumente, die gegen das Mahnmal sprechen […], längst formuliert worden“ seien. Sie hätten nur „den einen Nachteil, dass sie von den Auslobern ignoriert werden“. Diese weigerten sich, „die Kritik an ihrer Planung auch nur zur Kenntnis zu nehmen“.[38]

 

Die Desavouierung der Neuen Wache

Durch die Hartnäckigkeit von Romani Rose wie, auf der Gegenseite, das Taktieren der Bundesregierung, die Kompromisslosigkeit von Lea Rosh und die Unentschlossenheit des Berliner Senats zogen sich die Verhandlungen hin und gaben Helmut Kohl Zeit, sein Projekt Neue Wache voranzutreiben. Bereits 1989 hatte er sich einen Gipsabdruck des Originals der Pietá der Kollwitz auf seinen Schreibtisch in Bonn gestellt.[39] Noch vor der Hauptstadtentscheidung für Berlin ließ er die Möglichkeiten einer Umgestaltung der Neuen Wache zur zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik sondieren.[40] Gegen lautstarke Proteste von Teilen der Öffentlichkeit, darunter auch Teilen der Berliner jüdischen Gemeinde wurde die Gedenkstätte im November 1993 eingeweiht. Damit war das Projekt innerhalb von nur zwei Jahren politisch durchgesetzt und praktisch realisiert. Kohl war es gelungen, die Neue Wache wenn auch mit Schrammen in den Hafen des nationalen Gedenkens zu lenken, bevor das Holocaust-Denkmal seine Schatten werfen konnte. Schon wenige Jahre später, so lässt sich vermuten, wäre dieses anachronistische Projekt an den Wogen öffentlicher Kritik zerschellt. Nahezu zeitgleich mit der Übergabe der Neuen Wache legte die Berliner Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen ein „Arbeitspapier“ für die Ausschreibung eines künstlerischen Wettbewerbs „Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas“ vor.[41]

Anderthalb Jahre später brach die Debatte erneut wieder auf. Dieses Mal aber ging es nicht um Denkmale, sondern um Gedenktage. Ignatz Bubis und die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hatten vorgeschlagen, den 27. Januar, den Tag der Befreiung von Auschwitz, zu einem Gedenktag für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes zu machen.

Das Vorhaben stieß auf erhebliche Einwände im Bundeskanzleramt. Kohls langjähriger Chefredenschreiber und Leiter der Kulturabteilung Michael Mertes gab zu bedenken, dass bereits am Volkstrauertag an der Neuen Wache der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht werde und die Gefahr bestehe, dass die Einführung eines eigenen Holocaust-Gedenktages „zu einer Entwertung des Volkstrauertages, zu einer – ungewollten – Ausgrenzung der Holocaust- Opfer, möglicherweise zu einer Rückentwicklung des Volkstrauertages zum reinen Gefallenen-Gedenktag führen“ könnte, womit „ nicht zuletzt auch die Umgestaltung der Neuen Wache zur Zentralen Gedenkstätte desavouiert“ wäre. Er schlug vor, zu prüfen, „ob man dem berechtigten Kern des Anliegens von Herrn Bubis nicht in einer Weise gerecht werden kann, die das Holocaust-Gedenken in den Volkstrauertag einbezieht“. Mertes dachte an eine Proklamation des Bundespräsidenten, in der „gemäß dem Text der Opfergruppen-Tafel an der Neuen Wache […] die Opfergruppen ausdrücklich benannt, außerdem der Holocaust in seiner Besonderheit hervorgehoben[42] werden.

Mertes hatte gute Argumente, die auch für die Denkmal-Problematik galten: Die Neue Wache machte keinen Unterschied zwischen deutschen Opfern und den Opfern der NS-Verbrechen. Wenn jetzt mit dem Denkmal für eine Opfergruppe doch ein Unterschied gemacht wurde, beschädigte das den umfassenden Anspruch der Neuen Wache, denn es machte deutlich, dass es Unterschiede gab. Aber auch die Neue Wache beschädigte ihrerseits das Holocaust-Denkmal. Einerseits mit dem Denkmal für die jüdischen Opfer an den Holocaust zu erinnern und andererseits mit der Neuen Wache die Deutschen als Opfer des Nazi-Regimes darzustellen, musste Zweifel an der Konsistenz des Geschichtsbildes und auch an den Absichten einer Regierung aufwerfen, die diese Gedenkpolitik zu verantworten hatte. [43]

Aber Kohls Gedenkpolitik orientierte sich nicht an der Konsistenz von Geschichtsbildern und auch nicht an der normativen Forderung, die Wahrheit nicht zu verschweigen. Im Vordergrund standen weder die gewissenhafte Frage nach der Schuld noch die Anteilnahme am Leid der Opfer, sondern die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland.

Wo derart Erinnerungsarbeit von der Idee bestimmt wird, die Deutschen seien zunächst Opfer Hitlers geworden und dann, infolge der Verbrechen der Nazis, Opfer einer bleibenden Stigmatisierung, muss für die Politik die Frage in den Vordergrund rücken, wie dieses „falsche“ Deutschlandbild im Ausland korrigiert werden kann.[44] Wo immerfort von Schande geredet wird, als stünde ihr kein Verbrechen und kein Makel gegenüber, konzentrieren sich die eigenen Anstrengungen auf die Außendarstellung, und es entsteht die Erwartung, ein verbessertes Bild im Ausland werde auch das historische Selbstbild der Deutschen wieder aufrichten:[45] Die Deutschen müssten sich nicht länger beim Gedanken an ihre Geschichte in Frage gestellt sehen. Sie könnten wieder selbstbewusst die Rolle in der Welt übernehmen, die ihnen zustehe. Kohls Interesse am Holocaust-Denkmal war in der Erwartung begründet, das Denkmal werde das Ausland beeindrucken und helfe das Deutschlandbild entscheidend zu korrigieren. Gedenkpolitik war für ihn Imagepolitik, die darauf abzielte, zur Stabilisierung der deutschen Identität Reputationsgewinne zu erzielen.[46] Es ist nicht auszuschließen, dass im Laufe der Zeit in der Einschätzung Kohls der Renomée-Gewinn, den das „Holocaust-Denkmal“ versprach, den Verdruss über die Beschädigung des historischen Deutungsmonopols der Neuen Wache überwog, zumal als deutlich wurde, dass um dieses Denkmal für die ermordeten Juden kein Weg vorbei führte.

Es lag in der Logik einer solchen auf Außenwirkung bedachten Gedenkpolitik, dass Betroffenengruppen, die öffentliche Resonanz fanden, sich mit ihren Ansprüchen durchsetzen konnten, während eine Gruppe wie die Sinti und Roma, die keine Lobby hatte, zunächst leer ausging. Da man diese Logik besser für sich behielt, überließ Kohl Presseerklärungen der Berliner Senatsverwaltung. Er selbst äußerte sich allenfalls in gezählten Wörtern und in den letzten Tagen seiner Amtszeit.[47] Wo seine Gedenkpolitik auf scharfe Kritik stieß wie bei der Neuen Wache, sann er auf Ausgleichmaßnahmen. Wo sie das Selbstbild seiner konservativen Klientel zu beschädigen drohte, vermied er deutliche Aussagen zur Rolle der deutschen Mehrheit im NS. Er sprach zwar immer von der Verantwortung Deutschlands für die Erinnerung an den Holocaust, aber nie von der Mitverantwortung und der politisch-moralischen Mitschuld der deutschen Bevölkerung an den Untaten. Insofern kam ihm die sprachlose Sprache des Denkmals für die ermordeten Juden ebenso entgegen wie das Narrativ des unterirdischen „Ortes der Information“, das für die Morde die NS-Führung und die SS verantwortlich machte und über die Rolle der deutschen Bevölkerung so auffällig schwieg.

 

Eine Konzession, keine Korrektur

In den dreißig Jahren, die zwischen der Ära Adenauer und der Ära Kohl lagen, hatte sich in der deutschen und in großen Teilen der internationalen Öffentlichkeit eine fundamentale Veränderung in der Wahrnehmung der Nazizeit vollzogen. Adenauer war noch der Meinung gewesen, dass mit dem Abkommen mit Israel die Vergangenheit vergangen sei.[48] Der dramatische Rückgang der Zahl der NS-Angeklagten vor westdeutschen Gerichten von nahezu 4.000 im Jahre 1949 auf 27 im Jahre 1955 schien das zu bestätigen.[49] Die Wiedererlangung der Souveränität im Mai 1955 bedeutete das Ende des deutschen „Paria“-Status und die Rückkehr in die Gemeinschaft der Völker. Für Adenauer wie für die meisten Deutschen war das, was geschehen war, zwar schrecklich, aber der Schrecken würde wieder verblassen.[50] Die Nazizeit würde schließlich in die Geschichte zurücksinken, wie es auch früher mit grausamen Zeiten geschehen war. Adenauer, dessen historische und moralische Vergleichsmaßstäbe sich im Kaiserreich und der Weimarer Republik gebildet hatten, verglich den Zweiten Weltkrieg mit dem Ersten, den Vernichtungskrieg im Osten mit dem Stellungskrieg im Westen, und die Opfer der Juden mit denen der Deutschen.[51] Was er so wenig wie seine Landsleute begreifen wollte und daher auch nicht begreifen konnte, war, dass der Nationalsozialismus aus der Geschichte herausragte und zum bleibenden Zeugnis menschlicher Barbarei werden würde.

Aber genau dies war die Überzeugung, die sich in den dreißig Jahren, die zwischen Adenauer und Kohl lagen, in großen Teilen der Öffentlichkeit durchsetzte: der Holocaust wurde Referenzpunkt eines globalen Geschichtsverständnisses und ein Ereignis von universalgeschichtlicher Bedeutung. Historiker, ausländische wie deutsche, legten immer neue Kapitel der NS-Geschichte frei, ständig neue Skandale erschütterten die Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft hörte nicht auf, Fragen zu stellen, zu viele, die ihre Unschuld erklärt hatten, hatten gelogen. Diese Entwicklung versuchte Kohl mit seiner geistig-moralischen Wende, mit seinen Museumsprojekten, seiner Symbolpolitik zum Gedenken an die Weltkriege und den Auftritten bei Auslandsbesuchen zu konterkarieren. Es war eine Wende zurück in die fünfziger Jahre, die mit der Neuen Wache zum Ausdruck kam.[52]

Bezeugt nun die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, dass die geschichts- und erinnerungspolitischen Intentionen, die Kohl mit der Neuen Wache verfolgte, revidiert wurden? Keineswegs! Das neue Denkmal war in Kohls Perspektive eine Konzession, keine Korrektur. Es sollte nichts revidieren, lediglich ergänzen. Es musste nur gebaut werden, weil der öffentliche Druck seitens der jüdischen Opfer, der internationalen Öffentlichkeit und der deutschen Zivilgesellschaft zu groß war, so groß, dass Kohl gezwungen war, mitzumachen, wollte er sein Gesicht nicht verlieren.

Die beiden Denkmäler spiegeln das „Bewegungsgesetz“ der deutschen Erinnerungspolitik: zwei Schritte vor und einen zurück. Sie dokumentieren die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das deutsche Geschichtsbewusstsein  bewegt sich zwischen den Polen eines nationalkonservativ motivierten Wunsches nach einem Schlussstrich und einer selbstreflexiven Arbeit an der eigenen Vergangenheit. Die Frage „Wie war das möglich?“ steht weiter im Raum. Das Hin und Her, das opportunistische Taktieren, das aus den Dokumenten des Bundeskanzleramtes und des Bundesinnenministeriums spricht, ist nur Ausdruck eines nach wie vor virulenten Konflikts zwischen beiden Grundströmungen der deutschen Erinnerungspolitik.

[zuerst erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Ausgabe 64 (2016) 11, S. 968-982]

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Claus Leggewie/Erik Meyer, „Ein Ort, an den man gerne geht.“ Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005, S. 47.

[2] Grundlegend zum deutschen Opfergedenken in der Bundesrepublik: Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertages, Frankfurt am Main/New York 2010, insbesondere S. 268-296.

[3] Die offizielle Formel hieß: die Untaten seien „von Deutschen im deutschen Namen“ begangen worden. Ähnlich äußerte sich Adenauer in einem Interview mit Karl Marx, dem Herausgeber der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“ am 11. 11. 1949: „[D]as Unrecht, das in seinem [des deutschen Volkes] Namen durch ein verbrecherisches Regime an den Juden verübt wurde […]“. Rolf Vogel (Hrsg.), Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik, Teil 1: Politik, Bd. 1, München/New York 1987, S. 16.

[4] Vgl. Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945, Berlin/New York  2005, S. 497-508.

[5] Die SPD hatte die Nennung aller Opfergruppen gefordert und sich dabei auf den Opferkatalog der Rede von Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1995 bezogen. Deutscher Bundestag, 10. WP, Drucksache 10/4293 (neu) vom 21.11.1985. Siehe auch Deutscher Bundestag, 10. WP, 214. Sitzung, 25. April 1986. S. 16447-16477.

[6] Eine ausgezeichnete Darstellung der Geschichte der Auseinandersetzungen um die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik bietet Sabine Moller, Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl. Die Neue Wache – Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas – Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mit einem Vorwort von Joachim Perels, Hannover 1998, S. 13-71.

[7] Auch die Abstimmung des Bundestages 1999 wurde erst möglich, als die Regierung Schröder ihre Kompetenz als Auslober an den Bundestag übertrug. Vgl. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufbruch und Erneuerung. Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, in: Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferenz (Hrsg.), Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine Dokumentation, Berlin 1999, S. 1145 f.

[8] Exemplarisch: Hans-Georg Stavginski, Das Holocaust-Denkmal. Der Streit um das `Denkmal für die ermordeten Juden Europas´ in Berlin (1988-1999), Paderborn 2002; Jan-Holger Kirsch, Nationaler Mythos oder historische Trauer. Der Streit um ein zentrales `Holocaust-Mahnmal´ der Berliner Republik, Köln 2003; Holger Thünemann, Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Dechiffrierung einer Kontroverse, Münster 2003. Zu der hier untersuchten Frage nach den Stationen und Motiven der Entscheidungsfindung der Bundesregierung tragen diese Arbeiten nur wenig bei. Sie streifen die Jahre 1989 bis 1993 nur kurz und legen in ihren Darstellungen den Schwerpunkt auf den Zeitraum, nach dem die wichtigsten Entscheidungen bereits getroffen waren. Die Rolle, die die Bundesregierung für den Projektverlauf spielte und die Frage, wie sich das „Holocaust-Denkmal“ in den Kontext ihrer Gedenkpolitik einordnete, bleiben auf diese Weise weitgehend undiskutiert. Entscheidend für diese Mängel dürfte gewesen sein, dass zum Zeitpunkt der Abfassung der genannten Arbeiten der Zugang zu den Dokumenten der Bundesregierung fehlte und sich die Autoren fast ausschließlich auf die Medienberichterstattung stützen mussten. Dadurch tritt die Untersuchung der Rolle der öffentlichkeitsscheuen Bundesregierung hinter die Darstellung der erst 1994 breit einsetzenden öffentlichen Debatten zurück. Leggewie und Meyer klammern bei der Thematisierung des Holocaust-Denkmals die Jahre 1989 bis 1993 ganz aus. Vgl. Leggewie/Meyer, „Ein Ort, an den man gerne geht“.

[9] Die Zuständigkeit für die nationale Denkmalpolitik lag beim Bundeskanzleramt und (zur damaligen Zeit) beim Bundesinnenminister. Die Akten umfassen die Jahre 1989 bis 1998 mit Schwerpunkt auf den Jahren bis 1995. Die Autoren konnten die Akten, soweit sie freigegeben waren, 2016 im Bundesarchiv in Koblenz einsehen.

[10] Boos an Herrn Minister, Sachstandsbericht, 7. 8 .1991, in: BArch B 106/161590.

[11] Die Bürgerinitiative gründete im Herbst 1989 den „Förderkreis zu Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas“, der Träger der weiteren Aktivitäten zur Errichtung des Denkmals wurde. Vgl. Lea Rosh, Von der Idee zur Entscheidung. Ein langer Weg, in: dies. (Hrsg.), „Die Juden das sind doch die anderen“. Der Streit um ein deutsches Denkmal, Berlin/Wien 1999, S. 35-42.

[12] Vgl. Stukenberg an Referatsleiter 212, 20. 4. 1990, in: BArch B 136/101700.

[13] Washington an Bonn AA, Fernschreiben, 14. 3. 1990, in: BArch B 136/101700. Das Bundeskanzleramt vermutete, dass der Christian Science Monitor-Artikel von der „Perspektive Berlin“ lanciert worden sei. Vgl. Vogt an Referatsleiter 212, 20. 3. 1990, in: BArch B 136/101700.

[14] Washington an Bonn AA, Fernschreiben, 11. 4. 1990, in: BArch B 136/101700.

[15] Ohne Verfasserangabe, Anliegen des Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin, 19.12.1991, in: BArch B 106/161590.

[16] Vgl. Der Chef des Bundeskanzleramtes an Trautmann, 12. 3. 1992, in: BArch B 106/161590.

[17] Vgl. Boos, Vermerk, 24. 3. 1992, in: BArch B 106/161590. Diese Zusage wurde am 6. 4. 1992 in einem Gespräch des Bundesinnenministers mit dem Berliner Senator Hassemer und dem Chef des Bundskanzleramtes bestätigt. Vgl.  Trautmann an Kroppenstedt, Vorlage, 16. 4. 1992, in: BArch B 106/161590.

[18] Bubis sicherte Kohl in dem Gespräch zu, seine Opposition gegen die Neue Wache aufzugeben, wenn Kohl ihm zusicherte, das Rosh-Projekt zu realisieren. Vgl. Ignatz Bubis mit Peter Sichrovsky, „Damit bin ich noch längst nicht fertig.“ Die Autobiographie, Frankfurt a.M. 1996, S. 263.

[19] In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 14. 5. 1993 rief Kohl in einer Vielzahl von Äußerungen das Schicksal der Deutschen als Opfer von Krieg und Nazizeit in Erinnerung und stellte die Gedenkstätte ausdrücklich in die Tradition des selbstzentrierten Gedenkens in der Bundesrepublik seit dem Ende des Krieges. Vgl. Deutscher Bundestag, 12. WP, 159. Sitzung am 14. Mai 1993, S. 13447-51. Siehe auch Bill Niven, Introduction: German Victimhood at the Turn of the Millenium, in: ders. (Hrsg.), Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke 2006, S. 1-25, hier S. 6.

[20] Israel-Besuch und Bitburg standen exemplarisch für die neue, die „unbefangene“ Sicht Helmut Kohls auf die jüngere deutsche Geschichte. Bei seinem Israel-Besuch 1994 hatte Kohl für sich die „Gnade der späten Geburt“ als Ausweis seiner (und deutscher) Unschuld reklamiert und in Bitburg hatte er ein Jahr später über den Gräbern von Weltkriegssoldaten, zu denen auch SS-Soldaten gehörten, mit Ronald Reagan die transatlantische Waffenbrüderschaft beschworen. Zum Israel-Besuch vgl. Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999, S. 200-206. Zu Bitburg vgl. Geoffrey Hartman (Hrsg.), Bitburg in Moral and Political Perspective, Bloomington 1986.

[21] Rosh´ Lobbyarbeit beim Jüdischen Weltkongress trug sehr wahrscheinlich zu einem Beschluss bei, in dem Kohl vom WJC aufgefordert wurde, das Denkmal-Projekt zu unterstützen. Vgl. http://judentum-projekt.de/geschichte/nsverfolgung/holocaustmahnmal/index.html (aufgerufen am 25.7.2016).

[22] Patrick Bahners und Frank Schirrmacher, „Ich stelle mich in eine Ecke, wo man gar nicht bemerkt wird.“ Wider den linken Neo-Wilheminismus oder vom Segen der Diskretion: Christdemokratische Kulturpolitik zieht der glanzvollen Geste die sachliche Arbeit vor. Ein Gespräch mit Helmut Kohl, FAZ vom 17. 7. 1998. In dem Interview sagt Kohl: „Ich bin ziemlich häufig dort (gemeint ist die Neue Wache), gehe ganz allein dorthin und stelle mich einfach hinten in eine Ecke, wo man gar nicht bemerkt wird. Es ist schon bemerkenswert, wie gesammelt und ergriffen die Leute die `Mutter mit dem toten Sohn´ betrachten. Ich erlebe jetzt eine große Genugtuung.“ Für Kohl war die Neue Wache etwas, das ihn emotional stark berührte. Die Skulptur erinnerte ihn an den Schmerz seiner Mutter über den gefallenen Bruder Walter.

[23] Deutscher Bundestag, 14. WP, 48. Sitzung am 25. Juni 1999. S. 4089 und 4126-4129.

[24] Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley/Los Angeles/London 2001.

[25] Allein 18 Dokumente, darunter sechs Schreiben des Zentralrats an die Bundesregierung, sind in den Akten nachweisbar.

[26] Günter Freudenberg, Die Redlichkeit muss es verbieten, Opfer von Opfer zu scheiden. Ein nationales Mahnmal für die ermordeten Juden sowie die Sinti und Roma? Frankfurter Rundschau vom 11. 4. 1991.

[27] Bubis beschwerte sich später in einem Interview mit der FAZ: „Der Senat […] oder das Bundesinnenministerium hätten es am liebsten, wenn ich sagen würde: So, das wird jetzt gemacht. Doch das geht nicht. Ich sehe mich nicht als Oberschiedsrichter.“ Ignatz Bubis:„Millionen Namen sind nicht genug“, Gespräch in FAZ vom 29. 6. 1995.

[28] Stukenberg an Chef des Bundeskanzleramtes, 18. 4. 1989, in: BArch B 136/101700. Alle Hervorhebungen im Original.

[29] Pfeifer an Rose, 11. 4. 1991, in: BArch B 136/101700.

[30] Boos, Vermerk, 24. 3. 1992, in: BArch B 106/161590.

[31] Trautmann an Kroppenstedt, Vorlage, 16. 4. 1992, in: BArch B 106/161590. Während der Förderkreis immer von „Verbrechen“ oder „Völkermord“ sprach, benutzte die Bundesregierung das Wort „Unrecht“, das auch Adenauer verwendet hatte. Zum ersten Entwurf des Wiedergutmachungsabkommens mit Israel kommentierte er, man solle „das Wort Verbrechen ersetzen durch Unrecht.“ Die Formulierung „Verbrechen“ sei „etwas sehr peinlich“. Adenauer an Blankenhorn, 24. 8. 1952, in: Adenauer, Briefe. 1951-1953, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1987, S. 270.

[32] Rosh an Kroppenstedt, 29. 5. 1992, in: BArch B 106/161590.

[33] Vgl. Abteilungsleiter K an Herrn Minister, Gesprächsführungsvorschlag, 22. 5. 1992, In: BArch B 106/161590. Auch der Vorschlag, ein Denkmal für die Sinti und Roma auf den Hohen Asperg zu errichten, stammte ursprünglich von Vertretern des Förderkreises. Siehe Eberhard Jäckel, „Das Kernstück“, in: Der Tagespiegel vom 8. 3. 1991.

[34] Pfeifer, Vermerk für den Herrn Bundeskanzler, 18. 1. 1994, in: BArch B 136/100701.

[35] Das geschichtspolitische Kanzlerprivileg Kohls bestätigten seine Minister Rudolf Seiters (Innen) und Oscar Schneider (Raumordnung, Bauwesen und Städtebau). Auf eine Art und Weise, die nicht unbekannt ist in Fällen, in denen deutsche Staatsdiener auf ihre Unzuständigkeit hinweisen möchten, antwortete Rudolf Seiters auf eine Interviewanfrage: „ […] an Einzelheiten kann ich mich gar nicht erinnern. Sie werden aber wissen, dass die Neugestaltung der Neuen Wache auf eine persönliche Initiative von Helmut Kohl zurückging […]“. Schreiben Seiters an Volker Wild vom 24. 7. 2013. Schneider betonte, dass es über die Umgestaltung der Neuen Wache keine Diskussion im Kabinett gegeben habe. Interview mit den Autoren am 29. 1. 2014. Allerdings gab es, offensichtlich pro forma, einen Kabinettsbeschluss vom 27. 1 .1993, um die notwendigen Haushaltsmittel zu beantragen.

[36] Die Colloquien sind dokumentiert in Heimrod, Der Denkmalstreit – das Denkmal?, S. 603-737, zum Auszug der Kritiker vgl. S. 682.

[37] Koselleck an Kohl, 21. 3. 1997, in BArch B 403/1178. Koselleck hatte bereits im Zusammenhang mit der Neuen Wache einen Brief an Kohl geschrieben, in dem er offensichtlich erhebliche Kritik an Kohls Denkmalplänen äußerte. Kohl antwortete nicht. Nun sagte Koselleck im Interview: „Obendrein finde ich es persönlich mies, dass Kohl mir nicht geantwortet hat. Immerhin kenne ich ihn noch aus Studienzeiten in Heidelberg.“ Andrea Seibel/Siegfried Weichlein, Interview mit Reinhard Koselleck, „Mies, medioker und provinziell“, in: Thomas E. Schmidt/Hans-Ernst Mittig/Vera Böhm u.a. (Hrsg.), Nationaler Totenkult. Die Neue Wache. Eine Streitschrift zur zentralen deutschen Gedenkstätte, Berlin 1995, S. 107-110, hier S. 110.

[38] Reinhard Koselleck, Die falsche Ungeduld. Wer darf vergessen werden? Das Holocaust-Mahnmal hierarchisiert die Opfer, in: Die Zeit vom 19. 3 .1998. Koselleck verwies auf die ungeklärten gedenkpolitischen Prämissen des Ensembles von Neuer Wache und „Holocaust-Denkmal“ und zählte die Lösungsalternativen auf: „Entweder sind alle Toten Opfer, wie es in der nationalen Gedenkstätte eingeschrieben steht. Oder: Opfer sind nur jene Gruppen, die als unschuldige Zivilisten oder als wehrlose Gefangene, speziell von den Nazis, umgebracht worden sind. Oder es müssen diese Opfergruppen noch einmal unter sich unterschieden werden […]“. Reinhard Koselleck, Vier Minuten für die Ewigkeit. Das Totenreich vermessen – Fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal, in: FAZ vom 9. 1. 1997.

[39] Kohl wollte testen, wie seine ausländischen Besucher auf die Figur reagierten. Interview der Autoren mit Christoph Stölzl am 7. 10. 2013. Nach Auskunft von Stölzl wurde er zum „Beauftragten der Bundesregierung für die Neugestaltung der zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft“ ernannt.

[40] Interview der Autoren mit dem ehemaligen Bundesminister für Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen Oskar Schneider am 29. 1. 2014 in Berlin. Schneider schied im April 1989 aus dem Kabinett aus und wurde von Kohl mit der Fortführung „des ganzen kulturellen Teils seiner Ministertätigkeit“ (Bayerischer Rundfunk am 4. 6. 2007) beauftragt.

[41] Vgl. Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Künstlerischer Wettbewerb, Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas, Ausschreibung Stand: November 93, in: BArch B 136/101701.

[42] Laitenberger (unterzeichnet: Mertes) an Herrn Bundeskanzler, 26. 5. 1995, in: BArch B 136/101700. Hervorhebungen im Original. Um der Kritik entgegenzutreten, bei der Neuen Wache handele es sich um eine Kriegsopfergedenkstätte, hatte Kohl in letzter Minute vor der Einweihung im Außenbereich der Neuen Wache eine Bronzetafel mit einer Liste aller Opfergruppen, derer an diesem Ort gedacht werden sollte, anbringen lassen. Vgl. dazu Moller, Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl, S. 55-58.

[43] Zum Geschichtsbild der Neuen Wache vgl. Volker Wild und Jan Ferdinand, 20 Jahre Bundesdenkmalpolitik zum Nationalsozialismus. Von der Neuen Wache bis zum Gedenk- und Informationsort der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014) 11, S. 881-900, hier S. 885.

[44] Siehe dazu Barbara Wolbring, Nationales Stigma und persönliche Schuld. Die Debatte über Kollektivschuld in der Nachkriegszeit, in: Historische Zeitschrift 289 (2009) 2, S. 325-364.  Wolbring schreibt: „In den Augen der Welt waren es nicht Verbrechen einer kleinen Clique von Nationalsozialisten, sondern die Verbrechen von Deutschen, die von der deutschen Armee im Namen Deutschlands […] begangen worden waren.“ Ebenda S. 338.

[45] Wolbring schreibt: „Es handelt sich um Schande, die im Urteil des Gegenübers begründet liegt.“ Ebenda S. 342.

[46] Das Spezifische des Kohlschen Umgangs mit der schwierigen deutschen Geschichte wird im Vergleich mit Richard von Weizsäcker und seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 deutlich. Aus der Rede war überall gut protestantisch der Appell an das eigene Gewissen herauszuhören: „Jeder frage [… ]sich im Stillen selbst.“ Richard von Weizsäcker, Ansprache in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages am 8. Mai 1985, in: Presse und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Erinnerung, Trauer und Versöhnung. Ansprachen und Erklärungen zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, Bonn 1985, S. 68. Weizsäcker wäre es nie eingefallen, mit seiner Unschuld im Ausland hausieren zu gehen.

[47] Überliefert ist nur ein Eintrag in das Besucherbuch der Ausstellung der Arbeiten des engeren Auswahlverfahrens im Januar 1998. Dort schrieb Kohl: „Ich wünsche uns, dass die Diskussionen und Mühen zu einer guten Entscheidung führen. Einer Entscheidung, die auch kommende Generationen verstehen und die das furchtbare Leiden des Mordes an Millionen Juden niemals in Vergessenheit geraten lässt.“ Heimrod, Der Denkmalstreit – das Denkmal?, S. 970. Am Ende seiner Amtszeit gab er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 17. 9. 1998 ein Interview.

[48] Dass die Vergangenheit nunmehr vergangen sei, war auch die Botschaft des zweiten Straffreiheitsgesetzes von 1954, mit dem die meisten bis dahin noch nicht amnestierten NS-Verbrechen amnestiert wurden. Vgl. Norbert  Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2012, S. 100-131.

[49] Vgl. Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 709.

[50] Adenauer sagte bei einem Essen im Hause des israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol am 3.5.1966 in Israel: „[W]ir [haben] alles getan, […] diese Zeit der Gräuel, die man nicht ungeschehen machen kann, zu überwinden. Wir sollten sie aber nun der Vergangenheit überlassen.“ Adenauer, Die letzten Lebensjahre, 1963-1967. Briefe und Aufzeichnungen, Gespräche, Interviews und Reden. Bd. II: September 1965 – April 1967, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Paderborn 2009, S. 223.

[51] Zur Gleichsetzung von deutschen und jüdischen Opfern sagte Adenauer bei derselben Gelegenheit: „Die Nationalsozialisten haben so viel Deutsche wie Juden umgebracht.“ Ebenda S. 223.

[52] Darauf hat zuerst die Kunstkritikerin Stefanie Endlich hingewiesen. Vgl. Stefanie Endlich, Zurück in die Fünfziger? Die Neue Wache – ein alter Hut! in: Schmidt/Mittig/Vera, Nationaler Totenkult, S. 11-24.

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